Kleine Dinge
Kleine Dinge

Kleine Dinge

Am Wochenende war ich zum Grillen bei meiner Freundin Simone und ihrem Mann Martin eingeladen. Alles in ihrem Haus steckt voller Liebe: die Keramikvase mit Pfingstrosen vor dem Fenster, das digitale Vogelzwitschern im Bad, die hübschen Schleifen an den Türen der Mädchenzimmer und der nach Pinien duftende Mulch im Garten.

Simone und Martin verstehen es sich schön zu machen und feiern dadurch die kleinen Momente des Lebens.

Irgendwann stand Martin am Grill und kümmerte sich um die Burger. Er formte Patties, drückte sie mit dem Spachtel auf die Stahlplatte, wartete und wendete sie. Im Wohnzimmer lief das erste Spiel der Europameisterschaft und verbreitete ein Geräusch, das mich an Samstagnachmittage im Ruhrgebiet erinnerte. Ein Sound, in den sich das Schleudern einer Waschmaschine mischt und der von grünem Rasen, Fangesängen und einem Marmorkuchen im Ofen erzählt. An jenem Fußballabend in Hamburg rief Martin zwischendurch den Gästen zu, dass die erste Ladung fertig sei und sie sich bedienen könnten. Dann machte er weiter. Ich fragte, ob er sich einsam am Grill fühle oder mal Pause machen wolle. Er verneinte das. 

Jetzt ist der Moment, auf den ich mich den ganzen Tag gefreut habe. Jetzt ist der Moment, in dem ich nichts anderes mache als zu Grillen

MARTIN

Das Grillen – ein Moment der Achtsamkeit. Es erinnerte mich an mein Gespräch mit dem Medizinpsychologen Niko Kohls. Der Wissenschaftler von der Hochschule Coburg beschreibt Achtsamkeit als die „Fähigkeit, das Hier und Jetzt wie ein staunendes Kind zu erleben, das im Zoo zum ersten Mal einen Eisbären erblickt.” Ich stelle mir vor, wie Martin beim Grillen kindliche Freude empfindet. Er blickt in das schwarz-rote Glühen der Kohle und sieht weiße Flocken aus der Hitze aufsteigen. Der Abendhimmel senkt sich sanftblau über den Garten, die Kinder kuscheln sich auf dem Sofa unter einer Decke zusammen, und während Guiness, der Bernhardiner, seinen Kopf auf die Pfoten legt, holt Simone Schokoladentarte aus der Küche, zerteilt sie in Würfel und verteilt Stücke davon auf Servietten an die Gäste. Es ist ein entspannter und friedlicher Abend.

Am nächsten Tag frage ich mich, was das Geheimnis der Hingabe an den Augenblick ist. Dabei fällt mir ein, dass die Praxis des Zen – das ist die japanische Richtung des Buddhismus – auch die Religion des Alltags genannt wird. Der Zen-Meister und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh (1926 bis 2022) empfahl, Hausarbeit als Achtsamkeitsübung zu betrachten. „Wenn ihr abwascht, denkt ihr vielleicht an den Tee danach und versucht, es so schnell wie möglich hinter euch zu bringen, damit ihr euch setzen und Tee trinken könnt“, heißt es in einer seiner Schriften. „Das bedeutet aber, dass ihr in der Zeit, in der ihr abwascht, nicht lebt. Wenn ihr abwascht, muss der Abwasch das Wichtigste in eurem Leben sein. Und wenn ihr Tee trinkt, dann muss das Teetrinken das Wichtigste auf der Welt sein.“ 

Jetzt. Jetzt. Jetzt.

Ich probiere es am nächsten Tag beim Kochen aus. Ich wusch die Frühlingszwiebeln, entfernte die oberste Schicht und legte dann die frischgrünen Stangen möglichst symmetrisch auf das Holzbrett. Anschließend setzte ich das Messer an und teilte einen Kringel nach dem anderen ab. Das machte ich sonst auch so, aber an diesem Tag schnitt ich ganz bewusst. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Genauso bedächtig verfuhr ich mit den Äpfeln und mit dem Teig, den ich in eine Pfanne goss.

Ich merkte, wie ich ruhiger wurde. Meine Gedanken legten sich auf ein inneres Sofa. Eine schöne Erfahrung, die wohl auch in Einklang mit dem Körper ist. Eine Studie aus Schweden zeigt, dass das menschliche Gehirn nicht allzu viele Aufgaben gleichzeitig bewältigen kann. In der Versuchsanordnung mussten 32 Teilnehmende visuelle Aufgaben wie eine schriftliche Prüfung in ruhiger und in unruhiger Umgebung bearbeiten. In dieser Zeit machten die Forschenden Aufnahmen von den Gehirnen der Probanden. In der Auswertung stellten sie fest: Je komplexer die visuelle Aufgabe, desto schwächer fiel die Reaktion des Gehirns auf Umgebungsgeräusche aus. Das bedeutet: Nur ein menschlicher Sinn erbringt zur gleichen Zeit volle Leistung. Höre ich beim Kochen einen Podcast, konzentriere ich mich entweder auf meine Ohren oder auf meine Augen und die bunten Farben des Gemüses. 

Natürlich ist es für die meisten Menschen ein unmöglicher Luxus, sich im Alltag immer nur auf eine Tätigkeit zu fokussieren. Trotzdem ist es gut, auch im laufenden Betrieb achtsam zu sein, sagt Niko Kohls.


„Aus Erkenntnissen der Neurobiologie wissen wir, dass Menschen, die achtsam leben und regelmäßig meditieren, weniger anfällig für stress- und altersbedingte Erkrankungen wie beispielsweise Bluthochdruck sind.“

Prof. Dr. Niko Kohls

Außerdem lohnt es sich, weil sonst das Leben wie auf einer Autobahn vorbeirauscht.

Als ich Kunstgeschichte an der Universität Hamburg studierte, musste ich das Latinum zu Ende bringen und belegte einen Crash-Curs. Für ihn stand ich morgens mit Latein auf und ging abends mit Latein zu Bett. Ich lernte nonstop und versuchte die Zeit so effektiv wie möglich zu nutzen. Währenddessen tröstete ich mich damit, dass es irgendwann ein „Danach“ gibt: Nur noch sechs Wochen. Fünf Wochen. Vier Wochen. Drei, zwei, eins. Als ich es endlich geschafft hatte, konnte ich diese auf Effizienz gerichtete Denkweise aber nicht sofort ablegen: nur noch rasch die Wohnung aufräumen, die Seminare an der Uni besuchen, eine Freundin treffen – dann ist der Tag endlich um! Es dauerte eine Weile, bis ich das Leben wieder unbeschwerter genießen konnte.

Oft fällt mir in diesem Zusammenhang auch eine Illustration ein, die meine Freundin Saskia einmal in einer Zeitung entdeckt und mir als Foto zugeschickt hatte. Der Cartoon von Denis Metz stammt aus dem Buch: „Opa was a Rolling Stone – Das Buch zum Rollator“, und zu sehen ist ein älterer Mensch, der mit seinem Rollator einen Friedhof erreicht. In einer wolkigen Sprechblase über der Figur steht: „Sie haben Ihr Ziel erreicht”.

Wir lachten erst, dann schluckten wir. Es ist so banal und doch so wahr:

Der Weg ist das Ziel