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Hypnose: Magie oder Wissenschaft?

Hypnose kann helfen, Ängste zu überwinden, Schmerzen zu lindern oder das Rauchen aufzugeben. Das dokumentieren mehr als 200 wissenschaftliche Studien. Aber noch immer haftet der Methode aus der Psychotherapie ein unseriöses Image an, sagt die Psychologin Dr. Sarah Karrasch. Du kannst unser Gespräch hören oder hier in Auszügen lesen:

Sarah, woher kommen diese Vorurteile gegenüber der Hypnose?

In vielen Köpfen hat sich das Bild der Blitzhypnose eingebrannt. Bei ihr rennt jemand nach einer Suggestion wie eine verrückte Henne über die Bühne. Aber diese Art der Hypnose ist eine Showhypnose. Sie dient der Unterhaltung und hat mit der Hypnose, wie wir sie in der Psychologie kennen, nichts zu tun.

Gibt es denn auch in der Wissenschaft noch Vorbehalte gegenüber Hypnose?

Teilweise schon. Deswegen ist es mir ein großes Anliegen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Was ist Hypnose genau?

Hypnose ist zum einen ein Entspannungsverfahren –  und zwar eines der ältesten der Welt. 4000 Jahre alten Überlieferungen aus dem Zweistromland zufolge versetzten sich die Menschen zu Heilungszwecken in die Trance, in einen sogenannten Tempelschlaf, der mit der heutigen Hypnose vergleichbar ist. Dann ist Hypnose ein Alltagsphänomen. Wir kennen den Zustand alle – etwa, wenn wir uns stark auf eine Tätigkeit konzentrieren und die Handlung gleichzeitig im Autopiloten ausführen wie auf langen Strecken auf der Autobahn. Hier spricht man von der sogenannten Highway Hypnosis. Und dann ist Hypnose ein Verfahren aus der Psychotherapie.

Wie funktioniert Hypnose als Therapieform?

Vereinfacht gesagt, gehen wir bei der Hypnotherapie davon aus, dass „schlechte“ Emotionen krank machen, „gute“ Emotionen gesund. Darauf können wir im Zustand der Tiefentspannung, der Trance, aufbauen. Wohl jeder Mensch hat beispielsweise eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, geborgen zu sein – auch wenn er oder sie dieses Gefühl in der Kindheit vielleicht nicht erleben durfte. In der Hypnotherapie knüpfen wir, um im Beispiel zu bleiben, an diese ideale Vorstellung von Geborgenheit an und machen sie erlebbar. Das kann sehr heilsam sein. Dabei hilft, dass wir in der Trance einen guten Zugriff auf das Unbewusste haben, auf Vorstellungen, Gefühle und Erinnerungen, die im Alltagsgeschehen weniger zugänglich sind.

Die Hypnotherapie wurde 2006 vom Wissenschaftlichen Beirat als wissenschaftlich begründete Psychotherapiemethode anerkannt. Ist das nicht Grund genug, ihr zu vertrauen?

Einerseits ja. Es gibt gute Evidenz bei psychosomatischen Beschwerden, Angst und Angststörungen. Vor kurzem hat die Universität Tübingen auch zu Depressionen eine breit angelegte randomisierte kontrollierte Studie durchgeführt, die dem Goldstandard der Forschung entspricht. Ebenso gibt es Belege für die Wirksamkeit der Hypnose bei psychosomatischen Beschwerden wie dem Reizdarmsyndrom und bei Schmerzen. Aber damit irgendwann die Krankenkassen die Hypnotherapie als Leistung übernehmen, muss noch mehr geforscht werden – und das Problem ist, dass – unter anderem durch die Mystifizierung der Hypnose – oftmals Gelder für große Studien fehlen.

Welche Studie hat dich am meisten beeindruckt?

Wir sehen in Studien immer wieder, dass sich durch den hypnotischen Entspannungszustand Immunparameter verändern und Abwehrkräfte gestärkt werden. In einer Studie hat man gesehen, dass bei Menschen mit einer Veranlagung zu Herpes die Ausbrüche nach acht Sitzungen Gruppenhypnose um 50 Prozent zurückgegangen sind. Ich habe selbst Herpes, und weiß, was es bedeutet, mit den Bläschen an der Lippe zu kämpfen zu haben – und dieses Studienergebnis hat mich positiv überrascht!

Du hast deine Doktorarbeit zur Hypnose an der Universität Ulm geschrieben und dafür den Nachwuchsförderpreis der Milton Erickson Gesellschaft erhalten. Womit hast du dich beschäftigt?

Ich habe die biomolekulare Wirksamkeit von Hypnose auf Ebene von Blut und Zellen erforscht und mir angesehen, wie sich eine einmalige Entspannungshypnose von 20 Minuten Dauer auf Körper und Geist ausgewirkt. Auf subjektiver Ebene konnte ich durch die Auswertung von Fragebögen feststellen, dass sich die Teilnehmenden nach nur einer Hypnose weniger ängstlich und depressiv fühlten. Auch im Blutbild gab es Veränderungen. Hier habe ich gesehen, dass nach der Entspannungshypnose die roten Blutkörperchen reduziert und das Blutplasma erhöht waren. Das heißt, das parasympathische Nervensystem wurde aktiviert, der Körper hat sich merklich entspannt.

Das heißt, ängstliche oder depressive Menschen können von einer reinen Entspannungshypnosen profitieren –  von einer Hypnose, die gar nicht therapeutisch ausgerichtet sind?

Genau. Der Zustand der Entspannung, ausgelöst durch eine Entspannungshypnose, behebt nicht die Ursache des Problems, kann aber sehr hilfreich sein, um sich zu erholen und dadurch körperlich und geistig besser aufzustellen. Das kann man in einem Moment, in dem es einem schlecht geht, gut für sich nutzen. Aber auch präventiv sind Entspannungshypnosen sinnvoll. Durch den vorbeugenden Einsatz lässt sich die körperliche und seelische Gesundheit besser erhalten.

Welchen Tipp hast du für jemanden, der noch nicht viel mit Hypnose zu tun hatte und sich für deren positive Effekte interessiert?

In der Hypnose begibt man sich in einen Zustand der besonderen Entspannung, den sehr viele Menschen als angenehm erleben. Gleichzeitig ist es auch ein bisschen Typ-Sache. Etwa 10 Prozent sollen, so heißt es, nicht gut auf Hypnose ansprechen. Deshalb würde ich es einfach mal ausprobieren und gucken, wie es mir damit geht. Wenn es nicht passt, bitte nicht traurig sein oder den Kopf in den Sand stecken. Es gibt viele tolle Möglichkeiten sich zu entspannen- durch Achtsamkeit, durch Progressive Muskelentspannung, durch Atemübungen oder einfach einen erholsamen Waldspaziergang. Ich würde mich auf die Suche begeben und schauen, was am besten zu mir passt.

Danke für das Gespräch.

Dr. Sarah Karrasch

ist klinische Hypnotherapeutin, Psychologin und hat ihre Promotion zum Thema „Breaking the Circle of Stress, Inflammation, and Disease – The Influence of Hypnosis on Interacting Psychological and Biomolecular Processes“ geschrieben. Sie hat sich in ihrer Praxis unter anderem auf die hypnotherapeutische Geburtsvorbereitung spezialisiert.

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Autismus

Autismus ist das breite Spektrum einer komplexen und vielgestaltigen neurologischen Entwicklungsstörung. Anlässlich des Welt Autismus-Tages am 02. April veröffentliche ich ein Interview mit Dr. Christine Preißmann. Sie ist Ärztin, Psychotherapeutin und Asperger-Autistin.

Frau Dr. Preißmann, wir führen dieses Gespräch telefonisch. Wenn wir uns gegenübersäßen, könnte ich dann feststellen, dass Sie Autistin sind?

Vielleicht. Ich sehe meinem Gegenüber nicht in die Augen, immer nur ganz kurz und flüchtig. Außerdem habe ich kaum Mimik. Wenn ich längere Zeit spreche, stellt man auch fest, dass ich meine Stimme wenig moduliere und recht monoton spreche. Ansonsten merkt man da nicht viel.

Wie würden Sie Autismus jemandem beschreiben, der noch nichts davon gehört hat? 

Das landläufige Bild von Autist:innen ist stark durch den Asperger-Autisten geprägt. Man hört in den Medien von einem Mann, der die Kreiszahl Pi auf ungefähr 10.000 Zeichen nach dem Komma auswendig lernt. Oder von einem Autisten, der über Rom fliegt und die Stadt aus der Erinnerung aufzeichnet. Abgesehen von Menschen mit rätselhaften Spezialbegabungen haben wir Kinder vor Augen, die schaukelnd in der Ecke sitzen und keinen Kontakt aufnehmen. Aber die überwiegende Mehrheit ist nicht so. Deshalb spricht man inzwischen auch von Autismus-Spektrum-Störungen. Damit wird deutlich, dass es nicht nur frühkindliche oder den Asperger-Autist:innen gibt, sondern ein breit gefächertes Spektrum. Es umfasst leichte und schwere Formen von Autismus. Die meisten Menschen mit Autismus wirken auf den ersten Blick unauffällig. Erst wenn man sich mit ihnen beschäftigt, fallen spezifische Auffälligkeiten auf. Stärken genauso wie Schwierigkeiten. 

Welche Schwierigkeiten? 

Vor allem im Sozialen. Autistische Menschen haben Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen. Small Talk ist ihnen fremd. Sie können Kontakt schlecht in Gang bringen und schlecht halten. Genauso haben sie Schwierigkeiten mit der Kommunikation. Typisch ist, dass sie beispielsweise Sprichwörter ganz wörtlich nehmen. Als eine Kollegin einmal sagte, sie könne „in die Luft gehen“, dachte ich, sie plane eine Flugreise. Genauso können wir die Mimik und Gestik einer Person nicht gut deuten. Dadurch stehen uns wichtige Informationen nicht zur Verfügung. 

Sie beschreiben in Ihren Büchern, dass Sie deshalb bereits in der Schule aufgefallen sind.

Ja. Die Schulzeit war die für mich wohl schlimmste Zeit meines Lebens Das wird auch so bleiben – glaube und hoffe ich! Es gab damalsso viel Unverständnis. Ich hörte immer wieder: „Stell dich nicht so an. Streng dich an, du bist doch nicht dumm, du musst das doch können! Du kannst Mathe, dann musst du doch auch in Deutsch den Aufsatz schreiben können.“ Diese ungleichen Kompetenzen vermochte niemand so wirklich richtig einordnen. Viele Betroffene werden in der Schule stark gemobbt und ausgegrenzt. 

Wie kamen Sie zu der Diagnose Autismus? 

Ich habe in Frankfurt Humanmedizin studiert, ich war Mitte zwanzig und in eine schwer depressive Phase geraten. Ich nahm damals immer bewusster wahr, dass alle anderen in Gruppen zusammen waren. Manche hatten einen Partner, andere Kinder. Ich war die Einzige, die immer abseits und allein stand. Eine Psychotherapeutin empfahl mir dann eine Therapie, und die Therapeutin kannte sich wiederum ein bisschen mit dem Thema Autismus aus. So kam es zur Diagnose. Zum Glück! 

Sie waren letztlich froh um die Diagnose?

Ja, es war eine Befreiung. Das Umfeld nimmt unser Verhalten ja oft als Provokation wahr. Es war hilfreich für mich und für andere zu wissen, dass ich manche Dinge nicht boshaft oder mit Absicht mache. Auch Eltern sind meist erleichtert, wenn sie eine Diagnose erhalten. Gleichzeitig ist es aber auch nicht ganz leicht, den Befund zu akzeptieren. Die Endgültigkeit kann eine depressive Phase auslösen, denn man weiß ja, dass einen die Diagnose das ganze Leben über begleiten wird. Bestimmte Dinge sind einfach nicht möglich.

Zum Beispiel?

Was mir sehr fehlt, ist eine Freundin hier in der Region, mit der ich ab und zu etwas unternehmen und auch einmal persönlichere Dinge oder Erfahrungen austauschen kann – auch über ganz lebenspraktische Dinge wie Kosmetik. Kontakt herzustellen lässt sich auch im Erwachsenenalter nicht antrainieren. Ich habe meine Eltern, wofür ich sehr dankbar bin, ansonsten aber bin ich alleine, und darunter leide ich schon.

Leben Sie allein? 

Bis vor zehn Jahren habe ich bei meinen Eltern gewohnt, mittlerweile habe ich eine eigene Wohnung. Anfangs war das Alleine-Leben schwieriger als ich dachte. Inzwischen funktioniert es aber mit Unterstützung durch Psycho- und Ergotherapie ganz gut.

Könnten Sie sich nicht mit einer Kollegin anfreunden, die Sie schon länger kennen?

Vielleicht. Aber man weiß nicht, wen man aussuchen sollte. Wie man auf den anderen zugehen sollte, wie man ein Gespräch beginnen sollte. Hier im Interview ist es leicht, da weiß ich, was mich erwartet, um welches Thema es geht. Bei anderen Menschen, die man flüchtig trifft, weiß man das nicht. 

Wie gehen Sie beispielsweise mit der Einsamkeit um? 

Ich habe seit langer Zeit eine Psychotherapeutin. Das ist schon sehr hilfreich. Außerdem habe arbeite ich seit vielen Jahren mit einer Ergotherapeutin zusammen, bei ihr geht es vor allem um die Komponente der Wahrnehmung und um lebenspraktische Unterstützung. 

Was raten Sie jemanden, der den Verdacht hat, selbst an Autismus erkrankt zu sein?

Auf jeden Fall den Kontakt zum nächstgelegenen Autismus-Verband aufzunehmen. Denn dort trifft man auf Menschen, die bereits Lösungen auf Fragen gefunden haben, die einen beschäftigen – sei es als Betroffener, sei es als Angehöriger. Darüber hinaus ist es sinnvoll, im eigenen Umfeld Bescheid zu geben. Man sorgt dadurch für mehr Verständnis. Einige Studien zeigen auch: Im schulischen Bereich können nahezu alle Fälle von Mobbing verringert oder sogar vermieden werden, wenn die anderen über den Autismus Bescheid wissen. Das Umfeld einzubeziehen, ist also sehr wichtig. 

Danke für das Gespräch.

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Sind wir alle verrückt?

Entspannung wirkt hilft dir, Entspannung in deinen Alltag einzubauen und deine mentale und körperliche Gesundheit besser zu verstehen. Diese Woche: ein Interview mit der Psychologin Lena Kuhlmann.

Lena, du stellst deinem Buch „Psyche? Hat doch jeder“ ein Zitat aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ voraus. Es besagt, dass wir alle ein bisschen verrückt sind.

Ja, für mich ist das ein schöner Einsteig, weil es mir mit dem Buch darum geht, etwas der Stigmatisierung entgegenzusetzen, mit der psychische Erkrankungen immer noch behaftet sind. Ich möchte damit zeigen, dass alle Menschen im Laufe ihres Lebens in ein psychisches Ungleichgewicht kommen können – Psychotherapeuten eingeschlossen.

Psychische Erkrankungen sind der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen im Job. Trotzdem scheuen viele Menschen den Gang zum Fachpersonal.

Die Leute, die zu uns in die Praxis kommen, sind oft überfordert und wissen nicht, wie eine Psychotherapie funktioniert. In ihrem persönlichen Umfeld sind sie häufig mit Stigmatisierungen konfrontiert. Ein gängiges Vorurteil lautet, dass eine psychische Erkrankung wie eine Depression mit einer Charakterschwäche gleichzusetzen sei. Man müsse sich nur zusammenreißen, dann gehe es auch schon wieder, heißt es. Wenn wir über Menschen sprechen, die seelisch erkrankt sind, gehen die Beschreibungen sogar in Richtung Beleidigung. Man sagt, jemand habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, sei ballaballa oder nicht mehr ganz knusper. Und Behandler*innen werden als Psychoonkel oder Seelenklempner bezeichnet. 

Bei körperlichen Erkrankungen gibt es eine solche Abwertung nicht. 

Genau. Da sorgt man sich eher und gibt Tipps – zum Beispiel ein bestimmter Tee bei einer Magenverstimmung. Die Psyche löst bei vielen Menschen Ängste aus, vielleicht auch, weil man sie, anders als einen Beinbruch, nicht sehen kann. Nicht wenige gehen dann auf Abstand und meiden den Kontakt.

Wenn ich zum Beispiel Polizistin werden möchte, führt eine laufende Psychotherapie unter Umständen zum Ausschluss meiner Bewerbung. Genauso kann ich Mühe haben, eine Lebensversicherung abzuschließen. Ist das gerechtfertigt?

Das Problem ist, dass psychische Erkrankungen im Gegensatz zu körperlichen alle in einen Topf geworfen werden. Es wird wenig differenziert, dabei bestehen himmelweite Unterschiede. Es gibt psychische Erkrankungen, die nur temporär sind, wie eine Anpassungsstörung nach einer Lebenskrise, verursacht beispielsweise durch den Verlust einer nahestehenden Person. Und dann existieren schwere Erkrankungen, wie die Schizophrenie, die langfristige Folgen haben können und das Leben sehr einschränken.

Grundsätzlich führen Verallgemeinerungen und Stigmatisierung dazu, dass viele Menschen erst sehr spät psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Patient*innen warten und leiden unnötig lange. Und wenn der Leidensdruck so hoch ist, dass sie in die Therapie gehen, ist die Erkrankung vielleicht schon stärker vorangeschritten und die Behandlung aufwändiger.

Was sagst du den wegen der Stigmatisierung verunsicherten Patient*innen?

Ich kläre auf, indem ich beschreibe, wie die jeweilige Störung entsteht, was sie ausmacht und was man dagegen tun. Psychoedukation nennt sich diese Aufklärungsarbeit. Am besten wäre, man fängt schon früher an und unterrichtet in Schulen oder durch Pressearbeit in der Öffentlichkeit. Dadurch wüssten mehr Menschen, wie beispielsweise eine Depression entsteht, wie Therapeuten vorgehen oder wie Angehörige helfen können – und wie nicht.

Bei welchen Anzeichen sollte man sich Hilfe holen?

Mir gefällt das Beispiel des Hausarztes, an den man sich bei wendet, wenn man körperliche Auffälligkeiten an sich bemerkt und unsicher ist. Das lässt sich sehr gut auf psychisches Leiden übertragen. Denn inzwischen hat die kassenärztliche Vereinigung die psychotherapeutische Sprechstunde eingeführt, die besagt, dass alle Patient*innen in Deutschland einen Anspruch haben, innerhalb von vier Wochen nach Anruf ein Erstgespräch mit einem Therapeuten führen zu können. Nach diesem Gespräch können Psychotherapeut*innen genau wie Hausarzt*innen entweder Entwarnung geben. Oder zu einer ambulanten, teil- oder vollstationären Therapie raten. 

Lena Kuhlmann

ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt in Frankfurt am Main. Ihr Buch „Psyche? Hat doch jeder“ ist bei Eden Books erschienen.

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“Morgens pfeifend zur Dusche”

Hast du schon mal von den Fünf Tibetern gehört? Die Fünf Tibeter sind eine Abfolge von fünf Übungen, die Körper und Geist gesund halten sollen. Ich habe sie durch Dieter Gurkasch kennen gelernt. Und wenn Dieter Gurkasch durch sie morgens pfeifend zur Dusche geht – dann ist das wirklich was Besonderes. Denn Dieter saß mehrfach im Gefängnis, einmal wegen schweren Raubmords. Für ihn waren die Fünf Tibeter ein Gamechanger im Leben, sagt er – vom Saulus zum Paulus. Heute unterrichtet er Meditation und Yoga im Gefängnis und hilft dadurch vielen Menschen.

Wieso hast du plötzlich mit Yoga angefangen?

Ich war, nachdem ich das erste Mal aus dem Gefängnis entlassen worden war, direkt rückfällig geworden – mit Raubüberfällen. Einmal geriet ich in ein Feuergefecht mit der Polizei, in dem mich eine Kugel im Rücken traf. Ich lag auf dem Boden und dachte: Das war’s. Ich sterbe. Bin ich aber nicht. Stattdessen wurde ich zu 13 weiteren Jahren Haft verurteilt. Und ich wusste nicht, wie ich die Zeit überstehen soll. Denn mein grenzenloser Hass und der Zorn, zwei Gefühle, die mich zuvor angetrieben und am Leben erhalten hatten, waren durch die Erfahrung des nahen Todes verschwunden. Gleichzeitig gab mir meine damalige Frau zu verstehen, dass sie auch dann bei mir bleibt, wenn ich schwach bin. Das war neu für mich. Ich befand mich dadurch auf der Suche nach einer anderen Art zu Leben. Ich steckte in einer ziemlich tiefen Krise.

In dieser Zeit hast du die Fünf Tibeter kennengelernt.

Ja. Meine Frau beschäftigte sich zu jener Zeit mit spirituellen Theorien. Ich konnte mit ihnen zwar nicht viel anfangen, trotzdem kam ich über sie zu den Fünf Tibetern. Oder die Fünf Tibeter kamen zu mir. Denn ich hatte mir in jener Zeit eine Muskelverletzung beim Sport zugezogen und konnte nicht wie gewohnt täglich drei Stunden trainieren. Ich konnte aber die ‘Mädchengymnastik’ absolvieren, wie ich die Fünf Tibeter damals nannte. Also habe eines Tages angefangen, in meiner etwa sieben Quadratmeter großen Zelle den „Kreisel“, die „Kerze“ oder den „Halbmond“ der Fünf Tibeter auszuprobieren. Ich habe mir davon nicht viel versprochen. Aber nach einigen Tagen ging es mir besser als jemals zuvor.

Woran hast du das gemerkt?

Ich hab mich dabei erwischt, wie ich morgens im Knast pfeifend zur Dusche  ging – und im Knast ist man schon fast statusmäßig schlecht gelaunt. Auch beim Treppensteigen fiel es mir auf. Ich war richtig beschwingt. Nach ein paar Wochen haben mich Mit-Insassen auf dem Hof gefragt, ob ich ihnen etwas von dem Zeug verkaufe, was ich nehme, und das mir so gute Laune macht.

Wie erklärst du dir das?

Die Fünf Tibeter sind sogenannte Bandhas, Praktiken, die durch das Zusammenziehen bestimmter Muskeln Energie im Köper festhalten und die einige vielleicht aus dem Yoga kennen. Man kann sich die Bandhas wie Energielenkungsschleusen vorstellen. Werden sie durch Übungen geöffnet, fließt die Lebensenergie Prana durch den Körper. Dadurch verleihen einem die Übungen die Energie, Dinge anzupacken, die man vielleicht schon immer einmal machen wollte, zu denen man sich bislang aber nicht hatte durchringen konnte. Mit dem Rauchen aufzuhören oder Abnehmen zum Beispiel.

Heute unterrichtest du als Yogalehrer in Gefängnissen. Kannst du mit den Fünf Tibetern anderen Menschen helfen?

Durchaus. Ich erlebe viele Gefangen, die tiefe spirituelle Erfahrungen machen und ihr Leben massiv verändern. Einer hat beispielsweise zwei Banküberfälle gestanden, die man ihm nicht hatte nachweisen können. Bei den Fünf Tibetern geht es außerdem auch immer darum, im Jetzt zu leben – dieser Gedanke kann im Gefängnis sehr hilfreich sein, wo man innerlich oft verzweifelt und von Langeweile und Wut geplagt ist. Wie fühle ich mich jetzt?, lautet die entscheidende Frage. Ich hab jetzt keinen Hunger, keinen Durst. Niemand trachtet mir nach dem Leben. Entspann Dich also!

Was rätst du Neueinsteiger*innen?

Ich empfehle, sich Zeit zu lassen und die Übungen zu genießen. Und nicht wie in manchem Buch vorgeschlagen, von Übung zu Übung, Wiederholung zu Wiederholung, zu hetzen, bis man bei der Zahl 21 angelangt ist. Es ist kein Sport, also brems Dich! Gut ist, die ersten drei Wochen drei Tibeter hintereinander zu praktizieren und sich anschließend langsam auf fünf Wiederholungen zu steigern. Diesen Zustand kann man dann eine Weile beibehalten. Zehn Minuten am Anfang oder 20 Minuten später reichen völlig aus.

Eine Anleitung findet ihr hier:

Dieter Gurkasch

wurde 1961 in Hamburg geboren und 1985 nach einem bewaffneten Raubüberfall zu seiner ersten Gefängnisstrafe von elf Jahren verurteilt. Nach seiner Freilassung brachten ihn weitere Delikte erneut in Haft. 2011 wurde er frühzeitig entlassen. Vier Jahre zuvor hatte er gemeinsam mit dem Pfarrer der JVA Fuhlsbüttel die erste offizielle Yogagruppe im Gefängnis gegründet. Mit dem Verein „Yoga und Meditation im Gefängnis“ möchte er Yoga und Meditation hinter Gittern als niederschwelliges Therapieangebot etablieren – als Werkzeug der Resozialisierung. 2013 veröffentlichte er seine Autobiografie „Dieter Gurkasch. Leben Reloaded – Wie ich durch Yoga im Knast die Freiheit entdeckte“.