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Autismus

Autismus ist das breite Spektrum einer komplexen und vielgestaltigen neurologischen Entwicklungsstörung. Anlässlich des Welt Autismus-Tages am 02. April veröffentliche ich ein Interview mit Dr. Christine Preißmann. Sie ist Ärztin, Psychotherapeutin und Asperger-Autistin.

Frau Dr. Preißmann, wir führen dieses Gespräch telefonisch. Wenn wir uns gegenübersäßen, könnte ich dann feststellen, dass Sie Autistin sind?

Vielleicht. Ich sehe meinem Gegenüber nicht in die Augen, immer nur ganz kurz und flüchtig. Außerdem habe ich kaum Mimik. Wenn ich längere Zeit spreche, stellt man auch fest, dass ich meine Stimme wenig moduliere und recht monoton spreche. Ansonsten merkt man da nicht viel.

Wie würden Sie Autismus jemandem beschreiben, der noch nichts davon gehört hat? 

Das landläufige Bild von Autist:innen ist stark durch den Asperger-Autisten geprägt. Man hört in den Medien von einem Mann, der die Kreiszahl Pi auf ungefähr 10.000 Zeichen nach dem Komma auswendig lernt. Oder von einem Autisten, der über Rom fliegt und die Stadt aus der Erinnerung aufzeichnet. Abgesehen von Menschen mit rätselhaften Spezialbegabungen haben wir Kinder vor Augen, die schaukelnd in der Ecke sitzen und keinen Kontakt aufnehmen. Aber die überwiegende Mehrheit ist nicht so. Deshalb spricht man inzwischen auch von Autismus-Spektrum-Störungen. Damit wird deutlich, dass es nicht nur frühkindliche oder den Asperger-Autist:innen gibt, sondern ein breit gefächertes Spektrum. Es umfasst leichte und schwere Formen von Autismus. Die meisten Menschen mit Autismus wirken auf den ersten Blick unauffällig. Erst wenn man sich mit ihnen beschäftigt, fallen spezifische Auffälligkeiten auf. Stärken genauso wie Schwierigkeiten. 

Welche Schwierigkeiten? 

Vor allem im Sozialen. Autistische Menschen haben Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen. Small Talk ist ihnen fremd. Sie können Kontakt schlecht in Gang bringen und schlecht halten. Genauso haben sie Schwierigkeiten mit der Kommunikation. Typisch ist, dass sie beispielsweise Sprichwörter ganz wörtlich nehmen. Als eine Kollegin einmal sagte, sie könne „in die Luft gehen“, dachte ich, sie plane eine Flugreise. Genauso können wir die Mimik und Gestik einer Person nicht gut deuten. Dadurch stehen uns wichtige Informationen nicht zur Verfügung. 

Sie beschreiben in Ihren Büchern, dass Sie deshalb bereits in der Schule aufgefallen sind.

Ja. Die Schulzeit war die für mich wohl schlimmste Zeit meines Lebens Das wird auch so bleiben – glaube und hoffe ich! Es gab damalsso viel Unverständnis. Ich hörte immer wieder: „Stell dich nicht so an. Streng dich an, du bist doch nicht dumm, du musst das doch können! Du kannst Mathe, dann musst du doch auch in Deutsch den Aufsatz schreiben können.“ Diese ungleichen Kompetenzen vermochte niemand so wirklich richtig einordnen. Viele Betroffene werden in der Schule stark gemobbt und ausgegrenzt. 

Wie kamen Sie zu der Diagnose Autismus? 

Ich habe in Frankfurt Humanmedizin studiert, ich war Mitte zwanzig und in eine schwer depressive Phase geraten. Ich nahm damals immer bewusster wahr, dass alle anderen in Gruppen zusammen waren. Manche hatten einen Partner, andere Kinder. Ich war die Einzige, die immer abseits und allein stand. Eine Psychotherapeutin empfahl mir dann eine Therapie, und die Therapeutin kannte sich wiederum ein bisschen mit dem Thema Autismus aus. So kam es zur Diagnose. Zum Glück! 

Sie waren letztlich froh um die Diagnose?

Ja, es war eine Befreiung. Das Umfeld nimmt unser Verhalten ja oft als Provokation wahr. Es war hilfreich für mich und für andere zu wissen, dass ich manche Dinge nicht boshaft oder mit Absicht mache. Auch Eltern sind meist erleichtert, wenn sie eine Diagnose erhalten. Gleichzeitig ist es aber auch nicht ganz leicht, den Befund zu akzeptieren. Die Endgültigkeit kann eine depressive Phase auslösen, denn man weiß ja, dass einen die Diagnose das ganze Leben über begleiten wird. Bestimmte Dinge sind einfach nicht möglich.

Zum Beispiel?

Was mir sehr fehlt, ist eine Freundin hier in der Region, mit der ich ab und zu etwas unternehmen und auch einmal persönlichere Dinge oder Erfahrungen austauschen kann – auch über ganz lebenspraktische Dinge wie Kosmetik. Kontakt herzustellen lässt sich auch im Erwachsenenalter nicht antrainieren. Ich habe meine Eltern, wofür ich sehr dankbar bin, ansonsten aber bin ich alleine, und darunter leide ich schon.

Leben Sie allein? 

Bis vor zehn Jahren habe ich bei meinen Eltern gewohnt, mittlerweile habe ich eine eigene Wohnung. Anfangs war das Alleine-Leben schwieriger als ich dachte. Inzwischen funktioniert es aber mit Unterstützung durch Psycho- und Ergotherapie ganz gut.

Könnten Sie sich nicht mit einer Kollegin anfreunden, die Sie schon länger kennen?

Vielleicht. Aber man weiß nicht, wen man aussuchen sollte. Wie man auf den anderen zugehen sollte, wie man ein Gespräch beginnen sollte. Hier im Interview ist es leicht, da weiß ich, was mich erwartet, um welches Thema es geht. Bei anderen Menschen, die man flüchtig trifft, weiß man das nicht. 

Wie gehen Sie beispielsweise mit der Einsamkeit um? 

Ich habe seit langer Zeit eine Psychotherapeutin. Das ist schon sehr hilfreich. Außerdem habe arbeite ich seit vielen Jahren mit einer Ergotherapeutin zusammen, bei ihr geht es vor allem um die Komponente der Wahrnehmung und um lebenspraktische Unterstützung. 

Was raten Sie jemanden, der den Verdacht hat, selbst an Autismus erkrankt zu sein?

Auf jeden Fall den Kontakt zum nächstgelegenen Autismus-Verband aufzunehmen. Denn dort trifft man auf Menschen, die bereits Lösungen auf Fragen gefunden haben, die einen beschäftigen – sei es als Betroffener, sei es als Angehöriger. Darüber hinaus ist es sinnvoll, im eigenen Umfeld Bescheid zu geben. Man sorgt dadurch für mehr Verständnis. Einige Studien zeigen auch: Im schulischen Bereich können nahezu alle Fälle von Mobbing verringert oder sogar vermieden werden, wenn die anderen über den Autismus Bescheid wissen. Das Umfeld einzubeziehen, ist also sehr wichtig. 

Danke für das Gespräch.