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Sind wir alle verrückt?

Entspannung wirkt hilft dir, Entspannung in deinen Alltag einzubauen und deine mentale und körperliche Gesundheit besser zu verstehen. Diese Woche: ein Interview mit der Psychologin Lena Kuhlmann.

Lena, du stellst deinem Buch „Psyche? Hat doch jeder“ ein Zitat aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ voraus. Es besagt, dass wir alle ein bisschen verrückt sind.

Ja, für mich ist das ein schöner Einsteig, weil es mir mit dem Buch darum geht, etwas der Stigmatisierung entgegenzusetzen, mit der psychische Erkrankungen immer noch behaftet sind. Ich möchte damit zeigen, dass alle Menschen im Laufe ihres Lebens in ein psychisches Ungleichgewicht kommen können – Psychotherapeuten eingeschlossen.

Psychische Erkrankungen sind der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen im Job. Trotzdem scheuen viele Menschen den Gang zum Fachpersonal.

Die Leute, die zu uns in die Praxis kommen, sind oft überfordert und wissen nicht, wie eine Psychotherapie funktioniert. In ihrem persönlichen Umfeld sind sie häufig mit Stigmatisierungen konfrontiert. Ein gängiges Vorurteil lautet, dass eine psychische Erkrankung wie eine Depression mit einer Charakterschwäche gleichzusetzen sei. Man müsse sich nur zusammenreißen, dann gehe es auch schon wieder, heißt es. Wenn wir über Menschen sprechen, die seelisch erkrankt sind, gehen die Beschreibungen sogar in Richtung Beleidigung. Man sagt, jemand habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, sei ballaballa oder nicht mehr ganz knusper. Und Behandler*innen werden als Psychoonkel oder Seelenklempner bezeichnet. 

Bei körperlichen Erkrankungen gibt es eine solche Abwertung nicht. 

Genau. Da sorgt man sich eher und gibt Tipps – zum Beispiel ein bestimmter Tee bei einer Magenverstimmung. Die Psyche löst bei vielen Menschen Ängste aus, vielleicht auch, weil man sie, anders als einen Beinbruch, nicht sehen kann. Nicht wenige gehen dann auf Abstand und meiden den Kontakt.

Wenn ich zum Beispiel Polizistin werden möchte, führt eine laufende Psychotherapie unter Umständen zum Ausschluss meiner Bewerbung. Genauso kann ich Mühe haben, eine Lebensversicherung abzuschließen. Ist das gerechtfertigt?

Das Problem ist, dass psychische Erkrankungen im Gegensatz zu körperlichen alle in einen Topf geworfen werden. Es wird wenig differenziert, dabei bestehen himmelweite Unterschiede. Es gibt psychische Erkrankungen, die nur temporär sind, wie eine Anpassungsstörung nach einer Lebenskrise, verursacht beispielsweise durch den Verlust einer nahestehenden Person. Und dann existieren schwere Erkrankungen, wie die Schizophrenie, die langfristige Folgen haben können und das Leben sehr einschränken.

Grundsätzlich führen Verallgemeinerungen und Stigmatisierung dazu, dass viele Menschen erst sehr spät psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Patient*innen warten und leiden unnötig lange. Und wenn der Leidensdruck so hoch ist, dass sie in die Therapie gehen, ist die Erkrankung vielleicht schon stärker vorangeschritten und die Behandlung aufwändiger.

Was sagst du den wegen der Stigmatisierung verunsicherten Patient*innen?

Ich kläre auf, indem ich beschreibe, wie die jeweilige Störung entsteht, was sie ausmacht und was man dagegen tun. Psychoedukation nennt sich diese Aufklärungsarbeit. Am besten wäre, man fängt schon früher an und unterrichtet in Schulen oder durch Pressearbeit in der Öffentlichkeit. Dadurch wüssten mehr Menschen, wie beispielsweise eine Depression entsteht, wie Therapeuten vorgehen oder wie Angehörige helfen können – und wie nicht.

Bei welchen Anzeichen sollte man sich Hilfe holen?

Mir gefällt das Beispiel des Hausarztes, an den man sich bei wendet, wenn man körperliche Auffälligkeiten an sich bemerkt und unsicher ist. Das lässt sich sehr gut auf psychisches Leiden übertragen. Denn inzwischen hat die kassenärztliche Vereinigung die psychotherapeutische Sprechstunde eingeführt, die besagt, dass alle Patient*innen in Deutschland einen Anspruch haben, innerhalb von vier Wochen nach Anruf ein Erstgespräch mit einem Therapeuten führen zu können. Nach diesem Gespräch können Psychotherapeut*innen genau wie Hausarzt*innen entweder Entwarnung geben. Oder zu einer ambulanten, teil- oder vollstationären Therapie raten. 

Lena Kuhlmann

ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt in Frankfurt am Main. Ihr Buch „Psyche? Hat doch jeder“ ist bei Eden Books erschienen.