Eine Stadt erwacht
Eine Stadt erwacht

Eine Stadt erwacht

Das erste Mal las ich den Roman „Der talentierte Mr. Ripley” von Patricia Highsmith vor vielen Jahren in einem kalten Winter. Es war Neujahr. Ein Sofa stand noch von der Silvesterparty in der Küche, Reste vom Chinesen auf dem Tisch. Beim Spaziergang in der Dämmerung freute ich mich auf das Buch mit einem rot weiß gestreiften Sonnenschirm auf dem Cover, und mir ging die Frage durch den Kopf, ob ich mit einem Mörder mitfiebern darf. Team Psychopath, ist das erlaubt? Das Buch aus Tätersicht ließ mich zwischen Identifikation und Distanzierung schwanken, und das war spannend.

2024 entdeckte ich die Mini-Serie „Ripley“von Oscarpreisträger Steven Zaillian (Drehbuch „Schindlers Liste“) auf Netflix. Die Verfilmung in Schwarz-Weiß schreckte mich zunächst ab. Doch dann verliebte ich mich neu in die Geschichte um den Trickbetrüger aus New York, der den Auftrag erhält, den Sohn eines reichen Industriellen aus Italien zurück nach Amerika zu holen.

Tom Ripley reist an die Amalfiküste. Auf der Suche nach Dickie Greenleaf besucht er das Städtchen Atrani, das sich an der Felsenküste wie ein Schneckenhaus in die Höhe schraubt, unten, in der Badebucht, schaukeln die Boote auf dem Meer. Viele Stufen muss Tom Ripley erklimmen, um zu Dickies mondäner Villa zu gelangen, „le scale, su, su“ sagte mit empor scheuchender Geste der alte Postbeamte, bei dem Ripley seinen Lederkoffer zur Aufbewahrung aufgab, bevor er ein Hotelzimmer bezog. Jede Szene gleicht einem wunderschön gestalteten Stillleben. Da bröckelt Putz an weiß getünchten Fassaden. In Kirchennischen springt nach einem Münzeinwurf elektrisches Licht an und erhellt ein Triptychon von Caravaggio, und die Gläser für Rotwein, mit dem Tom, Dickie und dessen Freundin Marge sich zuprosten, sind winzig wie Fingerhüte. Später in Rom, als Tom bereits Dickies’ Leben gekapert hat, ist der schmiedeeiserne Aufzug immerzu defekt, und wenn das schwarze Telefon aus Bakelit klingelt, nimmt Tom den Anruf nicht entgegen. Nur der Kater weiß, dass Tom nun auch Dickies’ Freund Freddie auf dem Gewissen hat. Aber Tom hat gar kein Gewissen, oder?

Kreuzigung des Heiligen Petrus in der  Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo in Rom, gemalt von Caravaggio.

Ich denke an den Winter, in dem ich das Buch las und reise noch weiter in der Zeit zurück, als ich in Rom lebte, mit einem Motorino nach Neapel fuhr und in Amalfi zeltete. Mich überkommt Italiensehnsucht, und so schaue ich nach Unterkünften in Atrani. Ich bin nicht die Einzige, die Lust hätte, auf Tom Ripleys Spuren zu wandeln: Die Preise sind ganz besonders hoch. Und würde ich überhaupt finden, was ich suche? Ein stilles Fischerdörfchen in Retroästhetik ohne Touristinnen und Touristen, in dem ich morgens in einer schmalen Gasse Espresso trinke und gedankenversunken auf barocke Schnörkel und romantische Fenster mit Wäscheleinen blicke? Unwahrscheinlich. Dickies‘ weiße Villa mit dem Picasso an der Wand befindet sich übrigens gar nicht in Atrani, sondern auf Capri: die Villa Torricella.

Italien – vielleicht im Herbst. Aber ich habe Geräusche aus dem Süden. Und so entsteht in mir die Idee zu „Eine Stadt erwacht“: Ich möchte, anders als in den hypnotischen Traumreisen, eine kleine Geschichte erzählen, die ohne Entspannungsformeln auskommt und die mit Geräuschen einer erwachenden Stadt untermalt ist. Hajos Klaviermusik ist melodisch genug, um bei ihr noch ein wenig im Bett liegen zu bleiben und sich von einem Akkord zum nächsten tragen zu lassen. Du darfst währenddessen zuhören, was unter deinem Fenster geschieht. Erst ist die Stadt still.

Hier und da singen Vögel im Gewirr der Äste eines Baumes: wilde Wellensittiche und ein Papagei mit grünen Federn.

Dann erwacht das Leben. Vielleicht bringt ein Lieferwagen Kisten mit Obst und Gemüse in den Supermarkt. Schaufenster mit Konfekt warten auf Kundschaft. Stühle auf einer Piazza werden hin und her geschoben, ich denke an polierte Lederschuhe. Und vielleicht hörst du ja auch das Meer, das sich am Strand bricht, ein Kommen und Gehen der Wellen, während du durch das weit geöffnete Fenster in die Wolken blickst – diese Wolken, die wie eine Segelflotte vorbeiziehen. Ich stelle mir den Himmel vor wie bei „Ripley“:

Grau, weit und mit einer Verheißung von Regen und Sturm.

Du kannst jetzt auch eine kürzere Fassung von „Eine Stadt erwacht“ hören. Kürzer sind hier die Abstände zwischen den einzelnen Sätzen.

„È sempre la luce“, sagt in „Ripley“ der katholische Priester über das Caravaggio-Gemälde, das den Altar seiner Kirche schmückt. Es ist immer das Licht. Das Licht bringt die Verwandlung, je nachdem, wie uns die Dinge erscheinen: grau, schwarz oder weiß, gut und böse. Und wirkt Tom Ripley, brillant von Andrew Scott gespielt, in Venedig und dem verschwommenen Licht des Sfumato nicht plötzlich ganz anders als zuvor? Fast schon fürsorglich, wie er sich um seine Angestellten kümmert oder die betrunkene Marge, die er in einer Gondel nach Hause bringt (auch wenn er zurück im Palazzo kurz überlegt, sie in den Kanal zu stoßen).

„È sempre la luce“, ein schöner Satz. Er lässt sich auf so manche Situation im Leben anwenden. Mir schenkt er Gelassenheit. Die kann ich im Moment ganz besonders gebrauchen – aber davon ein anderes Mal mehr.